Ein wichtiger Teil des großen Projektes Severingasse 8, war für uns, den Nobelpreisträger Eric Kandel kennen zu lernen. Wir freuen uns, dass dies gelungen ist!
Im Frühjahr 2016 hatten wir die wunderbare Möglichkeit Eric Kandel persönlich zu treffen und zu interviewen. Dieses Interview haben wir transkribiert, aufbereitet, von Herrn Kandel autorisieren lassen und freuen uns sehr es nun für Interessierte hier zu veröffentlichen!
v.l.n.r. : Susanne Regner, Michael Landesmann, Beatrix Wimmer, Eric Kandel, Iris Mostegel, Vera Albert
Foto: © Verein Volksopernviertel 1938
Eric Richard Kandel (geb. 7. Nov. 1929) ist ein amerikanischer, jüdischer Neurowissenschaftler österreichischer Herkunft. Seine Familie – die Eltern Charlotte und Hermann Kandel, sein älterer Bruder Ludwig und er lebten bis 1938 in dem Haus Severingasse 8 am Alsergrund. Eric Kandel hat große wissenschaftliche Verdienste um die Erforschung des Gedächtnisses erworben. Ihm wurde Im Jahr 2000 der Nobelpreis in Physiologie oder Medizin verliehen.
Eric Kandel ist eine Persönlichkeit, ein Mensch der Lebensfreude ausstrahlt und viel zu erzählen hat!
Das spannende Gespräch, das Beatrix Wimmer, Vera Albert, Susanne Regner, Iris Mostegel und Michel Landesmann mit Eric Kandel führten, können Sie hier nachlesen.
Wir trafen Eric Kandel im Hotel Sans Souci in Wien zu einem persönlichen Gesprächs-Interview. Das folgende Protokoll ist eine leicht gekürzte „einsprachige“ Fassung. Denn: nach einer fröhlich freundlichen Begrüßung, einigten wir uns schnell auf ein spontanes Switchen zwischen Deutsch und Englisch.
K: Schön, so kann ich mein Wienerisch praktizieren.
Ich muss Ihnen sagen, in meiner Zeit war es sehr selten, dass Nichtjuden Juden geholfen haben. Meine Frau ist aus Frankreich – da war es ganz anders. Die katholische Kirche in Frankreich hat Juden in verschiedenen Städten sehr geholfen, die Priester haben entschieden, diesen Menschen zu helfen. So war meine Frau zwei Jahre in einem Kloster untergebracht. Wir haben das Kloster später öfters besucht und trafen dabei auch die Frau, die meiner Frau Denise damals geholfen hat. Sie wurde – nominiert von meiner Frau – als eine „Righteous gentile“[1] (Anm. eine Gerechte unter den Völkern) anerkannt.
Übrigens sind Sie alle jüdisch?
M.L.: Ich bin Jude. Und welch zufällige Parallele – mein Vater und mein Bruder haben sich ebenfalls in einem Kloster verstecken können – in Ungarn.
K: In Österreich gab es kaum Möglichkeiten. Innitzer[2] war äußerst antisemitisch.
M.L.: Allerdings war es in Ungarn durch die Pfeilkreuzler[3] auch nicht gerade ungefährlich.
K: In der Relation war es damals in Ungarn etwas ruhiger. Jetzt hat sich die Lage ziemlich verschlechtert, ja sie ist grauenvoll antisemitisch.
M.L.: Damals im Kloster haben die meisten nicht gewusst, dass mein Vater und mein Bruder jüdisch sind. Als sie hörten, dass die Nazis, auf der Suche nach jüdischen Kindern, immer näher kommen, konnten sie noch rechtzeitig fliehen.
K: Oh, gut! Im Kloster in Frankreich gab es dafür einen speziellen Tunnel. Meine Frau Denise und ich reisten wie gesagt seither bereits mehrere Male zu diesem Kloster. Denise hat über ihre Erfahrungen geschrieben.
Im Rahmen einer Dokumentation entstand dabei eine besonders schöne Szene: nach all den Jahren fand sie auf der Suche nach ihrem Versteck die unterirdischen Fluchtwege von damals auf Anhieb.
V: Apropos Film, in Ihren Filmen, Vorträgen und Büchern vertreten Sie die These, das beim „Erinnern in die Tiefe gehen“ sei wie mit der Vergangenheit.
K: Ja, genau. Aber bevor wir uns weiter in die Tiefe begeben – Sie haben ein Anliegen an mich? Wie kann ich Sie unterstützen?
V: Ja, das wäre sehr fein. Zum Einstieg und „zur Erinnerung“ in Kürze zu den Zielen des Vereins Volksopernviertel 1938. Es gab einen sehr persönlichen Impuls für dieses Projekt – drei BewohnerInnen des Hauses Fluchtgasse 7 im 9. Bezirk, also in dem Bezirk, in dem Sie ja als Kind auch gewohnt haben, wollten der ehemaligen jüdischen Verfolgten ihres Hauses gedenken. Mit Unterstützung weiterer Aktiver wurde dann vor diesem Haus eine Gedenkstele errichtet.
K: Das ist fantastisch, ausgezeichnet!
Interessant – wissen Sie, ich weiß gar nicht, wer jetzt in unserer Wohnung wohnt – ich war zwar einmal dort, habe aber niemanden angetroffen. Aber unser Geschäft am Kutschkermarkt gehört jetzt Frau Pöhl[4], einer, sehr netten Frau. Sie hat uns sogar in New York besucht und hier in Wien ist eines meiner Bücher bzw. ein Bild davon in ihrer Auslage.
V: Das freut Sie sicher! Wie hoffentlich auch unser Anliegen an Sie – es betrifft ebenfalls Sie selbst: als nächstes Projekt würden wir nämlich eine Gedenkstele bzw. Tafel – je nach Möglichkeit – bei Ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Severingasse 8 im 9. Bezirk errichten.
K: Ja, Severingasse 8 – genau. In unserem Haus waren wir damals, glaub ich, die einzigen Juden.
V: Wann waren Sie nach dem 2. Weltkrieg das erste Mal wieder in Wien?
K: Lassen Sie mich überlegen. Das erste Mal wahrscheinlich um 1960 – so genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ein paar Jahre nach unserer Heirat, 1956, sind wir nach Paris gereist und dann nach Wien. Ich habe Denise die Severingasse, den Kutschkermarkt und so manches andere gezeigt. Damals wurde mir die Ehrenmitgliedschaft der Österreichischen Physiologischen Gesellschaft verliehen. Naja, ein Freund von mir, Steve Kuffler[5], hat ebenfalls diese Auszeichnung erhalten. Wir sind beide zur Verleihung nach Wien gekommen.
Nur: es war eine Enttäuschung. Der Professor, der uns diese „große“ Ehre erwiesen hat, hat mit keinem Wort erwähnt, dass wir damals verfolgt worden sind und emigrieren mussten. So ist ja auch Kuffler geflüchtet, weil er ein Viertel jüdisch war, aber auch noch zusätzlich ein sehr aktiver Sozialist. Es war ihm bewusst, dass er Österreich rasch verlassen musste.
Anschließend sind wir zu einem physiologischen Kongress nach Budapest gefahren. Die wissenschaftliche Situation in Wien war damals eher uninteressant.
Dann aber hat Boehringer-Ingelheim[6] in Wien ein Institut für molekulare Pathologie gegründet und Birnstiel[7] geholt. Der wiederum hat weitere europäische Forscher zur Mitarbeit im Institut eingeladen. Das war eine sehr wichtige Entwicklung.
1988 war ich zur Eröffnung des Instituts in Wien. In meiner Rede sagte ich u.a.: „Jetzt 50 Jahre nach 1938 scheint in Wien eine bessere Periode ihren Anfang genommen zu haben.“
2000 veränderte sich das Verhalten des offiziellen Österreichs zu meiner Person. Im Jahr 2000, als ich den Nobelpreis bekam.
Das Telefon bei mir in den USA läutete alle 30 Sekunden und viele Anrufe kamen aus Wien: „Wunderbar, ein österreichischer Nobelpreis!“ Ich erwiderte: „Das ist ein großer Fehler. Das ist ein jüdischer Nobelpreis, ein amerikanischer!“
Der damalige Bundespräsident Dr. Klestil[8] hat mir einen Brief geschrieben und fragte: ,Was können wir Ihnen zu Ehren tun?`. Ich habe geantwortet, ich hab mehr Ehre, als ich brauche, aber ich wünsche mir ein Symposium in Wien zur Reaktion Österreichs auf die Nazi-Periode.
Er hat das arrangiert. Ich nahm Kontakt zu Fritz Stern[9], einem deutschem Historiker auf, der mich unterstützt hat. Wir haben verschiedene Experten gebeten das Verhalten in Deutschland, Österreich und Frankreich zu vergleichen. Das Ergebnis wurde als Buch veröffentlicht.
Es war ein unglücklicher Termin, Dr. Klestil war eben verstorben.
Sein Nachfolger als Bundespräsident Dr. Heinz Fischer[10] hat uns bei einem der nächsten Wien-Besuche zum Abendessen eingeladen. Im Hotel Sacher trafen meine Frau Denise und ich auf ihn, seine Frau Margit sowie Anton Zeilinger[11] und dessen Gattin.
Fischer war wundervoll, durch seine gesamte bemerkenswerte Karriere hindurch. Ich habe ihn im Laufe der Zeit gut kennengelernt und mittlerweile treffen wir uns jedes Mal, wenn ich in Wien bin.
V: Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie zum ersten Mal wieder in Österreich waren, als Sie in Schwechat gelandet sind, welches Gefühl hatten Sie da?
K: Es war für mich nicht so ein bedeutender Augenblick.
V: Aber sie sind zurückgekommen. Viele wollten nicht und sind auch nicht einmal zu Besuch gekommen.
K: Ja, meine Eltern wollten nicht zurückkehren. Nachdem mein Vater gestorben war, ist meine Mutter allerdings doch noch allein nach Österreich gekommen, aber sie war nicht berührt davon und ich auch nicht.
V: Sie haben gesagt, dass Deutschland und Österreich nach dem Krieg ganz unterschiedlich mit dem Holocaust umgegangen sind?
K: Tja, in Wien war das kein Thema – keiner hat davon geredet. In Deutschland habe ich mich viel wohler gefühlt. Meine Freunde und Kollegen waren auch Wissenschaftler, und ich konnte ganz offen zu Ihnen sein. Es war viel angenehmer in Deutschland – für mich auch heute noch.
Deutschland hat sich sofort mit seiner Geschichte auseinandergesetzt, weil es dazu gezwungen war. Die Alliierten haben den lächerlichen Fehler gemacht, Österreich wie das erste Opfer zu behandeln, ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte.
Ich war ja damals in Wien, als Hitler einmarschierte, ich werde es niemals vergessen: alle waren ganz wild nach ihm! In der Volksschule hörten meine Freunde auf, mit mir zu sprechen und nach ein paar Monaten warfen sie uns aus der Schule. Wir mussten eine andere, eine „spezielle“ Schule besuchen.
V: Noch immer wird von Österreich als Opfer geredet. Auch von österreichischen Politikern, z.B. Dr. Andreas Khol, ÖVP[12]
K: Es war erschreckend wie euphorisch Hitler in Wien begrüßt wurde, unglaublich, über 200.000 Menschen!
V: Österreich hat mit der Geschichtsaufarbeitung erst spät begonnen. Wie ist Ihr Eindruck?
K: Es ist jetzt bereits viel besser. Aber ich bin sehr beeindruckt – von Michael Häupl[13], Heinz Fischer und Barbara Prammer[14], das sind bemerkenswerte und fantastische Menschen. Aber ich habe auch Erfahrung mit der Gegenseite. Ich habe darüber in einem meiner Bücher geschrieben. Eine Wiener Geographin hatte den Wunsch mich zu treffen. Also haben wir einander getroffen, in einer Art österreichischen wissenschaftlichen Ehrenorganisation. Sie fragte mich: „Wie würden Sie das Leben in Wien mit dem Leben in den Vereinigten Staaten vergleichen?“ Ich sagte: „Wie können Sie mich das fragen? Hier wurde ich fast umgebracht, und dort fühle ich mich großartig, in den USA kann ich ein besseres Leben führen.” Ihre Antwort: „Sie verstehen das nicht. In Wien hatte niemand Geld, außer den Juden. Und die schlimmsten waren die Ärzte, wenn man krank war, haben sie es aus einem herausgepresst.“
Ich sagte, ich könne das nicht glauben, dass sie so mit mir spricht, das ist Nazi-Propaganda. Darauf sagte sie, dass nicht alle schlecht gewesen wären und ich antwortete, ich glaube das jetzt alles nicht. Nach einiger Zeit verließ ich schreiend den Tisch. Als ich darüber in meinem Buch schrieb, schickte sie mir einen Brief und schrieb, dass ich sie zitiert hätte, aber ich hätte kein Aufnahmegerät dabei gehabt. Ich antwortete, dass ich sehr aufgebracht gewesen wäre und mehreren Leuten sofort davon berichtet und auch dann exakt notiert hatte, was sie gesagt hatte.
In der nächsten Auflage – in ihren Briefen schrieb sie, dass das nicht nur ihre Überzeugung ausgedrückt hatte, sondern die Gefühle von allen aus ihrer Umgebung – also sagte ich, „in der nächsten Ausgabe nehme ich die Anführungszeichen heraus und werde entsprechend anmerken, dass das nicht nur ihre Gefühle waren, sondern dass sie damit die Gefühle aus ihrer Umgebung ausgedrückt haben“. Und so habe ich es in der nächsten Ausgabe gemacht. Es ist verrückt und 15 Jahre her.
V: Sie haben einmal gesagt, Sie haben ein ambivalentes Verhältnis zu Wien als ein Wiener Jude. Wie ist heute ihr Verhältnis zu Wien?
K: Besser. Teilweise weil ich die Illusion habe, dass ich – und das ist eine völlig meschuggene Idee von mir – , dass ich der jüdischen Gemeinde hier helfen könnte. Sie hatten Probleme. Das vorrangige Problem ist, dass die Kultusgemeinde 2003 fast bankrott gegangen wäre. Sie erhält einen Sicherheitsdienst für die Krankenhäuser, Tempel, Schulen um sicher zu stellen, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird. All das kostet Geld, viel Geld. In anderen Ländern werden diese Ausgaben durch die Regierung finanziert, aber hierzulande nur in geringem Ausmaß. Als wir das erfahren haben, dachten wir, wir könnten helfen.
Walter Kohn[15] kannte den damaligen Bundeskanzler Schüssel[16], doch dieser half nicht. Aber Bürgermeister Häupl sprang ein, das war fantastisch. Und dann fand ich durch Zufall noch etwas für mich und meinen Entschluss zu helfen sehr Wichtiges. Bei einem Besuch im Holocaust Museum in Washington, es gab gerade eine sehr gute Ausstellung zur Rolle der Ärzte und Ärztinnen im Holocaust. Die Kuratorin, die mich durch die Ausstellung begleitete, teilte mir auch mit, dass sie eben erst Dokumente aus der Kultusgemeinde erhalten habe, von Menschen, die jetzt in den Staaten lebten. Sie fragte mich, ob ich die Dokumente meiner Eltern anschauen wollte. Natürlich wollte ich! Also sandte sie mir die Dokumente zu. Es war unglaublich.
Die Aufzeichnungen sprachen davon, dass „Hermann Kandel ein Mitglied mit Ansehen war seit 1924, er zahlte zwei Schilling im Jahr. Nach der „Kristallnacht“, als er beraubt worden war und nichts mehr besaß, gaben wir ihm Geldmittel und er führte dafür Hilfsarbeiten im Büro aus. Im nächsten Eintrag ist festgehalten, dass Hermann Kandel im Februar 1939 kam und um Geld für 1,5 Tickets für seine Kinder in die USA ansucht. Also gaben sie ihm das Geld. Und der dritte Eintrag besagt, dass er im Juli 1939 um Geld für zwei Tickets für seine Frau und ihn selbst anfragt, das er bekommen hat.“
Ich dachte, oh mein Gott, ich muss eine Spende an die Kultusgemeinde schicken! Sie ist eine großartige Organisation! Es gibt allerdings noch ein anderes Problem der jüdischen Gemeinde: es sind nur mehr 9000 Personen registriert, und sie wird kleiner. Deshalb gibt es Bemühungen jüdische Menschen nach Wien zu holen.
Ronald Lauder[17] z.B. betreibt eine Wirtschaftsschule in Wien mit etwa 200 SchülerInnen im Jahr. Viele von ihnen wollen bleiben, aber sie dürfen nicht. Der Grund, warum sie nicht bleiben können ist, dass man ein bestimmtes Einkommen vorweisen muss und sie haben natürlich noch kein Einkommen. Das braucht ein paar Jahre. Es sollte ein Gesetz geben, das den Zuzug der Studierenden unterstützt. Also habe ich an Bundespräsident Fischer geschrieben und er hat versprochen, mein Anliegen an das Innenministerium weiterzuleiten. So, hoffe ich, wenigstens in kleinem Rahmen etwas zur Verbesserung beizutragen. Das ist, was ich immer wieder versuche. Nicht immer erfolgreich.
V: Wunderbar – denn jede Unterstützung, jeder Impuls ist wichtig – wie wir wissen. Doch wieder zu Ihnen und der Vorkriegszeit: Wie verlief die Flucht in die USA?
K: Zuerst fuhren wir, mein Bruder und ich, nach Brüssel, da meine Tante und mein Onkel dorthin entkommen waren. Anschließend fuhren wir nach Antwerpen. Von dort mit einem Dampfer der SS Lloyd Linie in die Vereinigten Staaten.
Davor – beim Abschied in Wien – waren Gefühl und Empfindungen erstaunlich. Man würde glauben, ich war entsetzt darüber, meine Eltern zu verlassen. Aber als wir zum Bahnhof fuhren und auch noch am Bahnhof war meine Mutter so optimistisch, es war keine Frage, dass wir einander wiedersehen werden – da hatte ich keine Angst. Und ich wusste, dass ich meine Großeltern in den USA treffen würde, auch meinen Onkel – den ich zwar nicht kannte – aber er war einer aus der Familie meiner Mutter.
V: Denken Sie, dass Ihre Eltern wirklich so optimistisch waren oder Sie nur beruhigen wollten?
K: Wie kann man das wissen? Sie schienen optimistisch. In Brüssel waren die Verwandten viel wohlhabender als wir und sie konnten einfach ein Visum kaufen. Wenn man Geld hatte, konnte man ein Visum bekommen. Wir hatten kein Geld. Die Familie meines Onkels musste zwar in Brüssel warten, bis sie das Affidavit erhielten und in die USA fahren konnten. Für meine Mutter und ihre Schwester bestand aber eine Hürde – für Polen und Polinnen gab es eine Einwanderungsquote für die USA und diese „polnische Quote“ war sehr gering. So mussten sie lange warten, bis sie die Möglichkeit hatten, in die USA einzuwandern.
Sie müssen wissen, in der sogenannten „Schuschnigg-Ära“ kam Schuschnigg[18] ziemlich vielen Forderungen Hitlers nach. Als dieser immer größeren Druck ausübte, Nazis in die Regierung zu holen, sagte Schuschnigg „Stopp. Wir werden eine Volksbefragung [19]abhalten: Ja oder Nein. Ja, wir bleiben unabhängig. Nein, wir schließen uns Deutschland an“. Sie war für den 13. März geplant.
Aber meine Mutter war klug. Sie dachte sich schon, dass das nicht gut ausgehen wird. Sie ging also noch vor dem Termin der Abstimmung zur US-Botschaft und erkundigte sich nach den Konditionen für die Einwanderung und das Affidavit. Anschließend schrieb sie ihrem Bruder in die USA und er schickte die nötige Bürgschaftserklärung. Es dauerte aber, bis sie die Genehmigung erhielten.
Für Kinder gab es übrigens ein spezielles Verfahren, sie konnten früher fahren. Auch für Eltern gab es anfangs ein eigenes Verfahren, der Grund, warum meine Großeltern Europa früher verlassen konnten.
V: Also waren Sie sich der Zeichen, der Entwicklungen bewusst?
K: Ja, meine Mutter fürchtete, dass sich die Situation verschlechtern wird. Mein Onkel verließ Österreich und Europa schon früh, ungefähr 1920 – nicht wegen Hitler, sondern da die Lebensbedingungen und Möglichkeiten in den USA besser sein sollten.
V: Aktuell (Anm.: Frühjahr 2016) ist eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien über KünstlerInnen, die in die USA emigriert sind, zu sehen. Der Kurator wies darauf hin, dass selbst sie große Probleme in den USA hatten. Wie ist es Ihrer Familie ergangen?
K: Null Probleme. Ich hatte persönliche „meschuggas“, meine eigenen Verrücktheiten, als ich im April 39 in den USA ankam. Ich ging in die öffentliche Schule, habe mich in der Klasse umgesehen. Aber in den USA ist es schwierig, Juden von Nicht-Juden zu unterscheiden. Auf mich wirkte es so wie in Wien, dass mich meine KlassenkollegInnen raushaben wollten – ich fühlte mich unbehaglich.
Mein Großvater wollte, dass ich eine jüdische Erziehung erhalte. Und wenn er mich im Sommer in Hebräisch unterrichtete, könnte ich die Aufnahmeprüfung bestehen. Ich war zwar nicht an Hebräisch interessiert, aber ich wollte an diese Schule und daher war ich einverstanden. Das war das einzige Mal, dass ich mich in den USA unbehaglich fühlte und es war etwas, das irgendwie aus mir selbst kam.
Dann in Harvard[20] – ich hatte keine Erfahrung mit den verschiedenen Formen antisemitischer Vorurteilen. Aber es gab dort bestimmte gesellschaftliche Studentenklubs, die keine Juden aufnahmen, außer sie waren sportlich versiert. Mich interessierten damals aber nur zwei Themen: Bücher und Mädchen. An Klubs hatte ich überhaupt kein Interesse.
Ich machte übrigens auch wunderbare Erfahrungen in Harvard:
Bevor ich Denise traf, hätte ich beinahe eine Österreicherin geheiratet. Anna Kris[21]. Ihr Vater war ein sehr bekannter Psychoanalytiker aus dem Kreis um Freud. Er machte gewaltigen Eindruck auf mich, brachte mich dazu, mich weiterhin mit Psychoanalyse zu beschäftigen. Durch ihn kam ich in Kontakt mit der Wiener psychoanalytischen Bewegung. Ich begegnete Anna Freud[22], lernte den österreichischen Psychiater und Psychoanalytiker Heinz Hartmann[23] kennen, der ebenfalls in den USA lebte, wie auch andere Psychoanalytiker, Psychoanalytikerinnen und ihr Freunde.
V: Haben Sie auch Vertreterinnen und Vertreter bzw. die Gründer der Gestalttherapie getroffen?
K: Nein. Schauen Sie, die Freudianer, mit denen ich zu tun hatte, waren kosher. Sie waren sogar wirklich ziemlich orthodox. Gestalt- , meine Güte. Naja/Nein, natürlich habe ich erfasst, dass Psychoanalyse in den USA an Einfluss verliert und die Verhaltenstherapie weit populärer ist. Sie wird als effektiver dargestellt. Ulrich Beck[24] revolutionierte die empirischen Studien der Psychotherapie. Ich ermutigte die Analytiker das gleiche zu tun.
Da gibt es eine Frau, Helen Mayberg[25], eine Verhaltenstherapeutin, die mich vor langer Zeit zu einem Artikel über „Psychotherapie und eine einzelne Synapse“ veranlasst hat. Ich habe aufgezeigt, dass Lernen enorme Veränderungen des Hirns bewirkt. Und Psychotherapie ist eine Lernerfahrung – das bedeutet es müssen dabei enorme Veränderungen erfolgen. Die Neurologin und Psychiaterin Helen Mayberg hat dies bewiesen. Tja, es gibt verschiedene Arten Therapie … das ist gut und großartig.
V: Interessant wäre zu wissen, wie das Gehirn das verarbeitet.
K: Ja
V: Weil wir gerade beim Gehirn sind: Thema Demenz-Neue Soziale Medien – ist diese „Begegnung“ schwierig für das Gehirn?
K: Ja und für junge Leute ebenso, ja. Es ist erwiesener Maßen die wichtigste Veränderung seit der Gutenberg-Bibel, seit der Entdeckung und Entwicklung der Druckschrift. Es ist eine völlig neue Art der Informationsvermittlung. Ebenso wie der Einsatz des Computers in all den möglichen Facetten. Wie das über einen längeren Zeitraum die Menschen beeinflusst, ist nicht klar, ob sie weniger Talent für andere Dinge haben werden – wir wissen es jetzt noch nicht.
V: Das heißt – wir müssen warten?
K: Genau, wir sollten allerdings kreativ eingreifen, einwirken. Aber wir benötigen Zeit um darüber nachzudenken.
V: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Traumatisierung und Erinnern?
K: Enorme Konsequenzen. Ich gestaltete die Fernsehserie „The Charlie Rose Brain Series“, wir produzierten 30 Folgen. Das letzte Programm, das wir drehten, handelte von Hirntraumata aufgrund von Sportverletzungen. Es gibt eine Menge von Wettbewerb-Sportarten für Jugendliche. Kinder mit 9, 12 Jahren – spielen Fußball, sie schlagen ihre Köpfe gegeneinander. Das kann zu Gehirnerschütterung führen. Also wollten wir herausarbeiten, dass man besonders sorgsam mit Kindern umgehen muss. Manchen wird beigebracht, weiter zu spielen, stark zu sein – das ist das Schlimmste.
In unserem Programm zeigten wir, dass man ähnlichen, wenn nicht schlimmeren Schaden durch Psychologie bewirken kann. Wie auch elterlicher Missbrauch, elterliche Vernachlässigung, Not/Armut. Denn wenn man aus einer sehr armen Familie kommt, ist die Größe des Hippocampus viel kleiner, als wenn man aus einer Mittelschicht-Familie kommt. Es ist erstaunlich, was für enorme anatomische Veränderungen durch soziale Faktoren bewirkt werden können. Das ist faszinierend.
V: Meinen Sie , dass sich Verdrängung von Traumatisierung auf Demenzprozesse auswirkt?
K: Nein. Meinen Sie eine Bewusstseinsstörung? Nein. Es gibt zwei Arten des Gedächtnisverlustes im Alter. Eine ist die Alzheimer Krankheit und die andere wird altersbezogener Gedächtnisverlust genannt. Die Alzheimer Krankheit ist sehr klar definiert. Sie ist dadurch bedingt, dass Beta-Amyloid[26] (Anm.: Eiweißablagerung) – das ein normales Protein des Gehirns ist – abnorm zu kumulieren beginnt, es tötet jetzt Zellen. Und sobald man die Zellen verloren hat, wachsen sie nicht mehr nach. Nach 5 oder 10 Jahren ist der Schaden ausreichend, klinisch.
Es ist eine allgemeine Ansicht der MedizinerInnen, die auch Ohnmachtsgefühle auslöst, dass derzeit einige Medikamente prinzipiell sehr effektiv sein könnten, es aber nicht sind. Der Grund: wenn Patienten mit Alzheimer kommen, haben sie bereits 10 Jahre verloren. Man muss die Diagnose sehr früh stellen können. So bemüht man sich derzeit, Menschen früh zur Untersuchung zu bewegen.
Erinnerungsverlust ist eine ganz andere Sache. Er beginnt in einer anderen Region des Gehirns, beruht auf unterschiedlichen Molekularveränderungen im Gehirn. Er zeigt sich durch ähnliche Merkmale – Menschen haben „Probleme mit Namen“ – der Prozess schreitet ebenfalls fort, aber sanfter. Und wirkt sich nicht auf Denken und Erkennen aus, sondern vorrangig auf das Erinnern.
V: Glauben Sie, dass es bald bessere Medikamente geben wird?
K: Für altersbedingten Erinnerungsverlust, ja. Es ist ermutigend.
V: Sie sind diesmal nur für 2 Tage nach Wien gekommen, trotz des langen und anstrengenden Flugs?
K: Ich habe morgen zwei Gesprächstermine. Einen bei der Ärztegesellschaft im Billrothhaus. Kennen Sie die interessante Geschichte von Billroth?[27] Als er 1865 aus Preußen nach Wien kam entwickelte er sich gerade zum Welt besten Chirurgen. Er war von dem Pathologen, Politiker und Philosophen Rokitansky[28], Carl Freiherr von, geholt worden, einem meiner Vorbilder. Rokitansky kam aus Böhmen. Er sah die medizinische Universität als ein vielfältiges Abbild der gesamten österreichisch-ungarischen Monarchie und wollte Mediziner für das ganze Land ausbilden. Billroth hingegen kam aus der preußischen Tradition – relativ rein deutscher Bestand, wenig Juden – und war der Meinung, dass das Theoriewissen der Studenten nicht hoch genug war. Es gäbe arme StudentInnen, die sich keine gute Ausbildung leisten konnten. Also sollte die Höhe des Einkommens ein Faktor bei der Aufnahme an die Universität sein. Außerdem seien viele Studenten jüdisch und kämen aus Galizien[29] in Osteuropa. Billroth war für die Betonung einer deutsch sprechenden Universität und verlangte daher auch ein Limit an jüdischen Studenten pro Klasse.
V: Er war offensichtlich antisemitisch?
K: Interessante Frage. Jeder hat ihn angegriffen. Er schien hundertprozent antisemitisch zu sein. 20 Jahre später wurde er einer der Vorsitzenden der „Christen gegen Antisemitismus“ -Bewegung. Ob er sich wirklich geändert hat oder ob er nur auf seinen Ruf bedacht war?
Eine erstaunliche Geschichte. Denn als Hitler kam, warfen sie alle Juden des Lehrkörpers raus. Immerhin 50 Prozent waren jüdisch.
V: Als Sie noch ein Kind waren in Wien, welche Rolle hat das Judentum in Ihrer Familie gespielt?
K: Wir haben danach gelebt. Wir gingen in die Synagoge, sie war sehr schön – sie ist zerstört worden. Wir gingen danach noch einmal hin. Ich erinnere mich – sie war im 18. Bezirk in der Nähe des Geschäftes meines Vaters. Wir gingen an den hohen Feiertagen in die Synagoge, nicht jedoch am Samstag. Aber meine Großeltern waren sehr religiös.
Kurz vor meiner Bar Mizwa[30] wurde ich religiös. Es dauerte aber nicht lange. Denn, wie gesagt, wir waren nicht sehr orthodox. Wir haben auch den Schabbat[31] nicht eingehalten. Meine Großeltern taten dies regelmäßig. Ich hatte das sehr gerne. Bald nachdem ich in die USA gekommen bin, habe ich schließlich recht gut Hebräisch gesprochen und ich habe auch meine Bar Mizwa gut gemacht. Tja, Ich bin nicht schrecklich religiös.
Wir feiern die hohen Feiertage, Pessach[32], Rosch ha-Schana[33], Yom Kippur[34]. Meine Tochter war eine blendende Schülerin, an der juristischen Fakultät war sie in Obamas Jahrgang. Heiratete einen anderen Rechtsanwalt. Er war koscher und ging früher mit einem nichtjüdischen Mädchen aus. Als er deren Eltern traf, spürte er ihre antisemitische Einstellung. So brachen sie die Beziehung ab und er überprüfte in Folge sein Leben. Er wollte etwas tun, das ihn jeden Tag daran erinnert, dass er jüdisch ist. Meine Frau meinte zu unserer Tochter „Ich wollte, dass Du einen jüdischen Mann heiratest, aber ich wollte nicht, dass Du es übertreibst.“ (Lachen) Er ist aber ein sehr netter Kerl.
Wenn Sie mich fragen, ob sich meine jüdische Erziehung auf meine Karriere und meine Heirat ausgewirkt hat – absolut. Meine Kinder sind alle religiös. Ich selbst fühle mich sehr jüdisch. Ich zögere absolut nicht, in jeglicher Gruppe ich selbst zu sein. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass dies jemand in Österreich ohne weiteres könnte, aufrichtig gesprochen.
V: In ihrem Buch „Und niemals ein Ende“ schreibt Nancy Amendt-Lyon[35] über Quoten für Jüdinnen und Juden an Universitäten in den USA. Haben Sie auch diese Erfahrung gemacht?
K: Nein, habe ich nie. Aber warten Sie – sie hat recht. Da gab es schon Quoten. Zu meiner Zeit war Harvard zwar eine Ausnahme. In der Zeit als ich dort studiert habe, 1948-1952, gab es keine Quoten. Aber davor gab es auch in Harvard Quoten. Eine Zeit lang hatten sie mehr jüdische StudentInnen als jede andere Universität, ungefähr 18 Prozent. Der Präsident wurde nervös und meinte, möglicherweise sind wir zu liberal, also reduzierten sie die Anzahl. Nach einer Weile wurde diese Limitierung aufgehoben und nun gibt es keine Diskriminierung mehr.
V: Was war Ihre erste Erfahrung mit Diskriminierung?
K: Das war nach Hitlers Einmarsch. Alle Kinder haben in meiner Schule in der Schulgasse aufgehört mit mir zu sprechen. Einem von ihnen begegnete ich am Tag nach dem Einmarsch, er kam zu mir und sagte mir, dass sein Vater ihm verboten hat, jemals wieder mit mir zu sprechen. Wir wurden von einem Tag auf den anderen ausgeschlossen. Innerhalb weniger Wochen. Ein jüdischer Kamerad und ich. Die einzigen zwei Juden in unserer Klasse. Wir wurden in eine Schule in einem Außenbezirk Wiens geschickt.
Mein Bruder ging erst in das Wasa-Gymnasium, im 9. Bezirk. Er wurde ebenfalls ausgeschlossen und ging dann in das Chajes Gymnasium[36]. Sie haben später eine Gedenktafel am Wasa-Gymnasium angebracht. Mein Bruder war phantastisch. Nummer eins in der Wasagasse. Seine Karriere war dann allerdings ziemlich traurig. Mein Bruder – er war fünf Jahre älter – war brillant. Immer nannten sie mich „Ludwig Kandels kleiner Bruder“. Er war herausragend. In der Volksschule war ich immer in seinem Schatten. Als wir in die USA kamen war ich 9 Jahre und er 14. Ungeachtet dessen, dass er so talentiert war, ging er in eine spezielle Schule, um das Druckergewerbe zu lernen, damit er bald Geld verdienen konnte, um meinen bald kommenden Eltern zu helfen. Dann kam der Krieg und er wurde eingezogen, anschließend ging er aufs College. Er studierte Deutsche Literatur. Mittelhochdeutsch. Er machte eine Erfahrung, die in den USA viele Flüchtlinge machten, die im Krieg kämpften. Sie wurden mit großem Respekt behandelt. Er erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er blieb der Armee sehr verbunden, blieb Reservist.
Als der Koreakrieg ausbrach, erhöhten sie die Anzahl der MitarbeiterInnen in den europäischen Botschaften. Er bekam das Angebot nach Paris zu gehen. Er unterbrach sein Studium, sogar die Arbeit an seiner Dissertation. Seine Frau und er gingen nach Paris. Auf dem Weg dorthin stoppten sie in New York. Jemand brach ihr Auto auf und stahl alle Papiere inklusive der Dissertation. Leider hat er sie nicht nochmals verfassen können, ich hätte das wahrscheinlich getan. Wer weiß.
In Paris war er dann als Offizier in der Finanzabteilung der Botschaft tätig und blieb mit seiner Familie 20 Jahre in Frankreich. Sie haben 5 Kinder bekommen und hatten eine schöne Zeit.
Wir, Denise und ich, waren mit seiner Frau gute Freunde, aber das letzte ihrer Kinder bekam kurz nach der Geburt hohes Fieber, und sie wurde sehr ängstlich. In der Armeebasis hat sie den protestantischen Pastor kennen gelernt und sie sagte, sollte ihr Bub überleben, so will sie konvertieren. Das Kind überlebte und sie konvertierte. Ich dachte, sie hätte eine postnatale Depression, ich rief sie an und sprach mehrere Male mit ihr, meine Mutter flog nach Paris und versuchte sie zu überzeugen, sie war völlig aus der Fassung, aber sie konvertierte. Meinen Bruder hat das nicht gestört. Sie soll tun, was sie will, war seine Einstellung.
Anschließend konvertierten alle 5 Kinder und sie wurde Baptistin und schließlich Mitglied der Episkopalkirche und endete als Katholikin. Mein Bruder hat das Jüdische nicht praktiziert, noch weniger als ich. Aber es ist auch wirklich traurig. All ihre Kinder – keines ist jüdisch. Es ist erstaunlich, wie das Leben einen in die verschiedensten Richtungen lenkt – das ist komplett meschugge. Mein Bruder Ludwig kam später zurück in die USA. Er hatte einen Job in einem New Yorker Krankenhausunternehmen, er starb früh an Krebs.
V: Zurück nach Wien – wir beschäftigen uns ja mit dem Volksopernviertel: Sind Sie jemals in der Volksoper gewesen?
K: Nein. Ich war in der Staatsoper. Und ich gehe in New York häufig in die Oper. Die Volksoper ist im neunten Bezirk, ich kenne sie.
V: Im Volksopernviertel befindet sich ja auch das Haus Severingasse 8 , in dem Sie als Kind gewohnt haben. Wie zu Beginn bereits angesprochen – wären Sie damit einverstanden, dass wir dort eine Gedenktafel o.ä. initiieren und organisieren? Wollen Sie das?
K: Ich hätte das sehr gerne.
V: Fein! Dann machen wir das.
K: Ich muss Ihnen was erzählen: aufgrund von Nachlässigkeit war mir nicht bewusst, was das für ein Treffen sein wird, ich dachte es ist ein normales Interview. Das ist aber etwas sehr Bedeutsames für mich. Es ist vielleicht völlig unwichtig, aber ich kann nicht unhöflich sein: bitte, wenn Sie künftig mit mir in Kontakt bleiben, sie mir darüber schreiben. Das würde mich freuen. Auch weitere Informationen gebe ich Ihnen gerne. Wir können per Email korrespondieren. Was Sie machen und planen, ist wunderbar. Aber warum der neunte Bezirk?
V: Weil wir alle hier wohnen
K: Wie sind Sie zusammengekommen?
V: Die InitiatorInnen des Projekts sind aktiv geworden und haben begonnen innerhalb des Grätzels Interessierte zu gewinnen. Und es kamen unterschiedlichste Menschen um mitzutun.
K: Das ist großartig. Sind Sie jüdisch? Er ist es, aber Ihr nicht?
V:(S.R.): ja und nein. Ich bin nicht religiös, aber Hitlers Rassengesetze machten meine Eltern zu Juden. Meine Eltern gingen nach England, andere aus meiner Familie kenne ich nicht, da sie nicht überlebt haben.
(V.Mü-Ha.): Naja, meine Großtante war mit dem Cousin von Schnitzler verheiratet, das wäre als Gojte schwer möglich gewesen.
K: Freud war sehr gut mit Schnitzler. Freud sandte ihm Glückwünsche zu seinem 40en Geburtstag und schrieb ihm, dass er viele „Inneneinsichten“ aufgedeckt habe, die zu realisieren ihn selbst harte Arbeit gekostet haben. Ich weiß: er hatte großen Respekt vor ihm. Ich weiß nicht, wie das Verhältnis von Schnitzler zu Freud war, sie hatten keinen persönlichen Kontakt. Schnitzler hat jedenfalls die Atmosphäre des Wiens um 1900 in seinem Werk wunderbar eingefangen.
V: Und wir werden unser gemeinsames Projekt „Severingasse 8“ starten – die nötigen Recherchen werden allerdings eine Weile dauern.
K: Lassen Sie sich Zeit, mein Gott, das ist so wunderbar, fantastisch. Das bedeutet mir viel. Und die wunderbare Frau am Kutschkermarkt, und vielleicht auch das Geschäft meines Vaters – das wäre wundervoll. Sie wäre sicher damit einverstanden.
Ich danke Ihnen vielmals. Es war wunderbar. Ich möchte ein Bild mit Ihnen allen. Die Dame vom Freud-Museum kann das machen. Sie kennen die Geschichte von „mehr Licht“. Bis zum nächsten Mal.
V: Gerne und vielen, vielen Dank!!!
[1] Righteous gentile ist ein Ehrentitel des Staates Israel für Nichtjuden, die Juden vor den Nazis geschützt haben.
[2] Theodor Innitzer (1875-1955), ab 1932 Erzbischof von Wien, 1933 zum Kardinal ernannt. Innitzer war zuvor auch Rektor der Universität Wien und Sozialminister in der Regierung Schober gewesen.
[3] Pfeilkreuzler ist ein synonymer Begriff für ungarische Faschisten, die das Pfeilkreuz zu ihrem Symbol erhoben hatten und darauf ihren Namen bezogen.
[4] Irene Pöhl, Kutschkergasse 31, A-1180 Wien; www.kaesestand.at
[5] Stephen Kuffler, weltweit anerkannter Neurophysiologe ungarischer Abstammung (1913-1980), machte sein Doktorat an der Wiener Medizinischen Fakultät
[6] Boehringer-Ingelheim, deutsches Pharmaunternehmen
[7] Max Birnstiel (1933-2014), Schweizer Molekularbiologe, Gründer des Research Institute of Molecular Pathology (IMP) in Wien (1986)
[8] Thomas Klestil (1932-2004), österreichischer Bundespräsident 1992-2004
[9] Fritz Richard Stern (1926-2016), US-amerikanischer Historiker deutsch-jüdischer Abstammung
[10] Heinz Fischer, geb. 1938, österreichischer Bundespräsident, 2004-2016
[11] Anton Zeilinger, geb. 1945, österreichscher Quantenphysiker
[12] http://derstandard.at/2000034653467/Khol-sieht-Oesterreich-als-Opfer-des-Nationalsozialismus
(Link überprüft am 15-07-2017)
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[13] Michael Häupl, geb. 1949, Bürgermeister von Wien seit 1994
[14] Barbara Prammer (1954-2014), österreichische Nationalratspräsidentin 2006-2014
[15] Walter Kohn (1923-2016), US amerikanischer Physiker österreichisch-jüdischer Abstammung
[16] Wolfgang Schüssel, geb. 1945, österreichische Bundeskanzler 2000-2007
[17] Ronald Lauder, geb. 1944, Präsident der jüdischen Weltkongresses; US Botschafter in Österreich 1986-1987, Gründer und Präsident der Lauder Business School in Wien (2003)
[18] Kurt Schuschnigg (1897-1977), österreichischer Bundeskanzler (1943-38)
[19] Schuschnigg versuchte mit einer Volksbefragung seine Politik der Verhinderung des Anschlusses zu stärken. Unter Druck Hiltlers musste die Volksbefragung aber am 10. März abgesagt werden.
[20] Harvard University, US-amerikanische Privatuniversität, gegründet 1636
[21] Anna Kris, Tochter von Ernst Kris (1900-1957), österreichischer Psychoanalytiker aus dem Kreise Sigmund Freuds. Er emigrierte 1938 vorerst nach London, 1940 wurde er als Professor nach New York berufen.
[22] Anna Freud (1895-1982), Tochter Sigmund Freuds, Psychoanalytikerin
[23] Heinz Hartmann (1894-1970), US amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker österreichischer Abstammung
[24] Ulrich Beck (1944-2015), renommierter deutscher Sozialwissenschaftler
[25] Helen Mayberg, geb. 1956; US-amerikanische Neurologin, Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der Emory Universität, Atlanta, Georgia
[26] Beta-Amyloide sind Eiweißketten, die bei bestimmten Erkrankungen im Gehirn (z.B. Alzheimer) vermehrt abgelagert werden.
[27] Theodor Billroth (1829-1894), deutscher Chirurg und bedeutender Vertreter der Zweiten Wiener Medizinischen Schule
[28] Carl von Rokitansky (1804-1878), Pathologe und ebenfalls Vertreter der Zweiten Wiener Medizinischen Schule. Er wurde in Königgrätz geboren.
[29] Galizien ist eine Region, die sich heute von Polen bis in die Ukraine erstreckt.
[30] Bar Mizwa; Erreichung des religiösen Mündigkeitsalter im jüdischen Glauben
[31] Schabbat: jüdischer wöchentlicher Feiertag, fällt jeweils auf einen Samstag
[32] Pessach: jüdischer Feiertag, der den Auszug aus Ägypten begeht.
[33] Rosch ha-Schana: jüdischer Neujahrstag, der im gregorianischen Kalender Ende September/Anfang Oktober liegt
[34] Yom Kippur: höchster jüdischer Feiertag, auch Versöhnungstag genannt. Er folgt 10 Tage nach Rosch ha-Schana.
[35] Nancy Amendt-Lyon (geb. 1950), US amerikanische Psychologin und Psychotherapeutin (Gestalttherapie), lebt und arbeitet in Wien.
[36] 1919 als jüdisches Privatgymnasium gegründet, 1927 nach einem Rabbiner in Zwi Perez Chajes Schule umbenannt. Das Gymnasium war zuerst in der Wiener Drahtgasse, dann in der Castellezgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk beheimatet. Es befindet sich jetzt an der Donaumarina.